Ensemble © Martin Kaufhold
Diese Uraufführung in Koproduktion mit dem Theater Rampe, Stuttgart, ist ein Bravourstück des aktuellen politischen Theaters. Wer bei „Verfahren“, einer Auftragsarbeit des Staatstheaters an Kathrin Röggla, eine hölzerne, juristisch fundierte Bestandsaufnahme und Kritik des NSU-Prozesses erwartete, wurde gründlich (positiv) enttäuscht. Was am Samstagabend in der Alten Feuerwache in der vortrefflichen Inszenierung von Marie Bues über die Bühne ging, war eine bitterböse Parodie auf die Art und Weise, wie einer der längsten und umfänglichsten Strafrechtsprozesse in der Öffentlichkeit wahrgenommen und von den Medien rezipiert wurde.
Röggla wählte den Kunstgriff, das Strafverfahren aus der Sicht von ProzessbeobachterInnen zu schildern. Aus kleinen Bruchstücken, wörtlichen Zitaten aus dem Prozess und aus den Medien, aber auch aus Emotionen und persönlichen Innenschauen der ProzessbeobachterInnen setzt sie eine Art Mosaik der gesellschaftlichen Situation im Zusammenhang mit den NSU-Prozessen zusammen. So entsteht ein beklemmendes Gesamtbild, dessen Wirkung nach und nach immer schwerer zu ertragen ist.
Röggla hält uns den Spiegel vor, in dem wir nicht nur das Geschehen vor Gericht erleben, sondern auch an die grauenerregenden Verbrechen der NSU-Clique erinnert werden, die von großen Teilen der Bevölkerung relativ teilnahmslos als schieres Zeitgeschehen registriert wurden. Die Schauspielerinnen und Schauspieler, die als ProtagonistInnen das Gerichtsverfahren verfolgen, und durchweg auf hohem Niveau ausdrucksstark agieren, schleudern die Zitate ins Publikum der Uraufführung, das sozusagen stellvertretend für die teilnahmslose Masse der Bevölkerung in Anspruch genommen wird. So erleben wir die ganze Bandbreite von tief verankerten Vorurteilen, Verdrängungen bis hin zu Verschwörungstheorien. Da wird nicht nur auf das schwindende Vertrauen in die Polizei oder die Justizbehörden aufs Tapet gebracht, sondern auch die Berichterstattung in den Medien aufs Korn genommen.
Das Stück lässt konsequent die am Strafprozess beteiligten Akteure des Prozesses (Richter Staatsanwälte, Polizei, Verfassungsschutz) außen vor. Ausgenommen ist nur die mit Grandezza agierende Gerichtsdienerin (Florence Adjidome), die sich in einem üppigen weißen Gewand präsentiert, das ihre Unschuld, ihre Nichtbeteiligung am eigentlichen Gerichtsverfahren symbolisiert. Aber irgendwie steht sie doch auch für die gerichtliche Autorität, wenn sie den ProzessbeobachterInnen mit Auskünften, Erklärungen und praktischen Hinweisen dient, diese aber auch mit schroffen Anweisungen zur Ordnung ruft.
Zu Beginn der Aufführung kommt ein Strafverteidiger (sehr temperamentvoll von Burak Hoffmann gespielt) zu Wort, der ein pointiertes Plädoyer für das amtierende Gericht des NSU-Verfahrens vorträgt und die rechtsstaatlich vorgegebenen Rahmenbedingungen strikt eingehalten sieht und auf die enormen Belastungen des Gerichts und den exorbitanten Umfang der Akten und Dokumente verweist. Dann ist da die BloggerIn (Sylvio Kretschmer), der/die subjektive Wahrnehmungen aus dem Gerichtssaal mit Inbrunst verbreitet. Oder die Gerichtsoma (sehr einfühlsam: Martina Struppek), quasi Volkes Stimme, die sich wortreich einmischt, aber auch offen über die Beziehung zu ihrer Tochter und das schmerzlich empfunden Abdriften ihres Sohnes in die rechtsradikale Szene berichtet. Gerichtsopa (Alexander Ebeert) gibt den coolen Beobachter des Prozesses, der sich an Fakten orientiert und emotionalen Überschwang vermeidet. Die von der türkischen Botschaft beauftragte Beobachterin (Anne Rieckhoff) wirkt gelangweilt und vertieft sich, um sich abzulenken, in ihr e-book, obwohl sie den heiklen Auftrag hat, rassistische Aspekte des Verfahrens zu erkunden. Bleibt noch der sogenannte Ausländer, SAL, offenbar türkischer Herkunft, der sich darüber beschwert, dass er durch undurchsichtige Machenschaften davon abgehalten wird, an Gerichtsitzungen teilzunehmen. Dieses Verhalten denunziert zugleich die wenig empathische Haltung der Behörden, aber auch der großen Mehrheit der Bevölkerung gegenüber den migrantischen Opfern des NSU.
Die Regisseurin Marie Bues hat mit Bühnen- und Kostümbildnerin Heike Mondschein eine ebenso einfache wie passende Szene geschaffen, ein recht niedriges Podest mit leicht schrägen Aufgangsrampen, auf dem sich die ProzessbeobachterInnen versammeln, miteinander ins Gespräch kommen oder sich an das Gericht und das Publikum wenden. Immer wieder drehen und winden sie sich auf dieser Rampe, ein überzeugendes Sinnbild für die Haltung von Behörden und Öffentlichkeit gegenüber den Opfern des NSU. Ein anregender und zugleich zutiefst erschütternder Theaterabend.
Lang anhaltender Beifall.
Kurt Bohr