
Daniel in der Löwengrube (Daniel in the Lion’sDen) © 1615 Peter Paul Rubens, Foto Gemeinfrei
Die Welt der Werte und Tugenden ist bestimmt durch handliche Oppositionen: gut/böse, wahr/falsch, und eben auch mutig/feige. Wir sortieren damit unsere Affekte und Kognitionen, die wertgetränkte Einordnung von Verhältnissen und Personen. Allerdings geht in der schroffen Gegenüberstellung oftmals verloren, dass wir es hier stets mit graduellen, also mehr oder weniger ausgeprägten Eigenschaften zu tun haben, die im Übrigen häufig vermischt mit anderen Einstellungen, Handlungsmerkmalen und Gefühlszuständen auftreten. In Wirklichkeit sind wir ja nicht entweder gut oder böse, sondern meist von jedem etwas oder sogar beides zugleich; und ebenso erweisen wir uns in besonderen Situationen eben als mehr oder weniger mutig oder nicht.
Situationsgebundenheit des Mutes
Mut ist zunächst keine Eigenschaft von Personen, sondern eine Handlungsqualität, das Merkmal einer Tat. Wir bezeichnen einen anderen als „mutig“, wenn er in einer konkreten, mehr oder minder existenziellen Gefahrensituation durch entschlossenes Handeln einen Ausweg gefunden und die Gefahr, oftmals auch im Interesse anderer, erfolgreich gebannt hat. Erst wenn jemand diese Handlungsqualität wiederholt unter Beweis gestellt hat, attestieren wir sie ihm als Charaktereigenschaft.
Ob jemand als mutig gilt oder nicht, ist also eine Frage der Retrospektive. Wo der Erfolg ausbleibt, ist der Vorwurf des Leichtsinns und der Unterschätzung des Risikos, gelegentlich auch des „Übermuts“ nicht weit. Häufig sind es die unbeteiligten Besserwisser, die über den Mut oder die Feigheit anderer ein wohlfeiles Urteil fällen.
Gleichzeitig sind, wie bei anderen Tugenden auch, das Selbst- und das Fremdbild immer schon miteinander verschränkt. So sind wir nicht selten nur deshalb mutig, weil die anderen uns nicht für feige halten sollen.
Das Grundmerkmal der Situation des Mutes ist die Gefahr. Kein Mut ohne das Widerfahrnis einer Bedrohung, die ohne Verzug abgewehrt werden muss. Mut ist deshalb legiert mit Initiative und Entschlossenheit, einer Unbedingtheitsqualität des Handelns, die alle Kräfte darauf konzentriert, der unmittelbaren Gefahr zu begegnen, auch wenn damit ein hohes Risiko des Scheiterns und großer persönlicher Nachteile verbunden ist. Mut erweist sich im Kampf gegen fremde Mächte, bei dem man immer auch verlieren kann.
Angst und Furcht
Es heißt oft und zu Recht: Mutig ist nicht, wer keine Angst hat, sondern wem es gelingt, seine Angst zu bezähmen. Dies lässt sich im Rückgriff auf die bei Søren Kierkegaard getroffene Unterscheidung von Angst und Furcht näher erläutern. Angst ist gekennzeichnet durch eine Überwältigung der Sinne („den Kopf verlieren“), lähmenden Handlungsverzicht und radikale Isolation. Die Menschen verlieren jeden Überblick und sind unfähig zu strategischer Kooperation. Lethargisch vor Angst kauern sie in einer Ecke oder suchen ihr Heil in panischer Flucht.
Anders im Falle der Furcht. Furcht versucht, angesichts der drohenden Gefahr einen klaren Kopf zu behalten und alle Handlungsenergien zu ihrer Abwehr zu bündeln. Sie überwindet die Lähmung der Angst, ergreift die Initiative und kann auf diese Weise neue Gemeinschaft stiften. Die Führung des Einen ist das Folgen der anderen, auch sie gewinnen so erneut Zuversicht und finden zum Handeln zurück. Mut ist im Grunde das optimistische Prinzip „Es gibt immer einen Ausweg“. Deshalb wird Mut oftmals auch mit Kraft assoziiert, eben als Kraft zu einem „wagemutigen Aufbruch“, was wiederum Selbstvertrauen und ein Bewusstsein eigener Ressourcen voraussetzt.
Selbstvertrauen, Entschlossenheit, Risikobereitschaft (und das heißt auch: Schuldfähigkeit) – all das sind im Grunde benachbarte Charakterisierungen, ja Paraphrasierungen von Mut. Mutig, so können wir resümieren, ist derjenige, dem es gelungen ist, seine Angst in Furcht zu transformieren – eine große psychische Leistung.
Mut kann man nicht vorwegnehmen. Wir können uns vornehmen, mutig zu sein; ob wir es dann aber tatsächlich sind, steht auf einem anderen Blatt. Dennoch können Übung und Erfahrung den Schock etwas abmildern und dabei helfen, die Überwältigung durch die Angst in Grenzen zu halten. Es ist leichter, mutig zu sein, wenn man die Gefahrensituation bereits kennt, sei es, dass man sie schon einmal durchgestanden oder in einer Ausbildung trainiert hat. Und trotzdem ist der Ernstfall jedes Mal neu und anders.

Alltag als Gegenpol
Dies führt zum Gegenteil der Mut-Situation, der Routine des Alltags. Der Alltag ist das Reich unserer eingespielten Gewohnheiten, mit denen wir wiederkehrende, unproblematische Aufgaben mit möglichst geringem Kraftaufwand lösen. Hier droht keine plötzliche Gefahr, der unmittelbar zu begegnen ist. Zum Kaffeekochen braucht es keinen Mut. Im Gewebe des Alltags regiert das Tun, die automatisierte Abfolge von Handlungsabläufen, die unserem Leben stets aufs Neue Struktur und Gewissheit geben.
Mut ist somit für Situationen reserviert, die grundsätzlich außerhalb alltäglicher Handlungsroutinen stehen. (Nicht zufällig ist der Begriff der „Außeralltäglichkeit“ ein zentrales Element der Charisma-Definition Max Webers.) Im Alltag dominiert das Prinzip der Bequemlichkeit, in den Worten des französischen Soziologen Jean-Claude Kaufmann: „Das Individuum hat die ununterdrückbare Neigung, an sich selbst mit dem Ziel zu arbeiten, vorgegebene Handlungsschemata immer besser zu inkorporieren. Das Idealmodell, das dabei angestrebt wird, ist der vollkommene Automatismus, der alle Zweifel ausräumt und den Körper von seiner Schwerfälligkeit befreit.“
Der paradigmatische Ort der Bequemlichkeit ist das Sofa. Wenn wir auf dem Sofa sitzen, sind wir angreifbar und müssen uns einen ‚Ruck geben‘, um auf die Beine zu kommen Die Behaglichkeit lullt uns ein, und wir lassen uns nur allzu gerne von dem, was der Fernseher gerade anbietet, berieseln.
Selbsttäuschung durch Bequemlichkeit
Wo wir es uns bequem machen, richten wir uns in den gegebenen Umständen ein und vermeiden jegliches Risiko. Dies gilt auch und gerade für unser Geschick, sich mit widrigen oder sogar entwürdigenden Gesellschaftszuständen und Herrschaftsverhältnissen zu arrangieren. Bequemlichkeit ist dieser Perspektive eine der Hauptursachen, ja vielleicht das entscheidende Motiv für freiwillige Knechtschaft und Unterordnung. Zur unhintergehbaren menschlichen Freiheit gehört auch – die im letzten Jahr verstorbene Philosophin Agnes Heller hat es in einer nachgelassenen Rede betont – , dass Menschen sich im Konflikt zwischen Sicherheit und Freiheit für die Sicherheit und damit zugleich für die Perpetuierung der eigenen Unfreiheit entscheiden können, also dazu bereit sind, um der Bequemlichkeit willen auf ihre Freiheitsansprüche zu verzichten.
Mut hingegen charakterisiert ein Handeln, das aus den gewohnten Verhältnissen ausbricht und aus freien Stücken ein hohes Risiko (auch des Scheiterns) auf sich nimmt, um Werten jenseits des Alltags Geltung zu verschaffen. Schon das Heraustreten aus der Masse, das Vertreten abweichender Meinungen auch gegenüber Freunden und Bekannten und der offensive Dissens gegenüber den Herrschenden oder dem herrschenden Zeitgeist – all das erfordert eine Haltung, die die Loyalität gegenüber übergeordneten Werten höher bewertet als das Vermeiden eigener Nachteile. Umgekehrt können wir uns jedoch auch für den anderen Weg entscheiden. Das Beharren auf der eigenen Bequemlichkeit ist in dieser Hinsicht eine subtile Methode, Situationen auszuweichen, die es erfordern könnten, mutig zu sein. Die Bequemlichkeit funktioniert so als eine Art Selbstlegitimierung von Mutvermeidung: Wir sind für das, was eigentlich nötig und zu tun wäre, nicht etwa zu feige, sondern nur zu bequem.
Mut kann man nicht propagieren, er kann sich nur im Handeln erweisen. Er steht für Werte, die uns wichtiger sind als unser Wohlergehen und die unproblematische Fortsetzung unseres Alltags. Das bedeutet jedoch zugleich, dass er notwendigerweise die Ausnahme bleiben muss, also für solche Situationen reserviert ist, die hohe persönliche Risiken enthalten und in denen rasche Entscheidungen erforderlich sind. Mit anderen Worten: Es sind Werte, für die wir bereit sind, Opfer zu bringen. Mut ist im Grunde nur ein anderes Wort für Opferbereitschaft.
Rainer Paris* im Opus Magazin #77 (Januar/Februar 2020) im “Schwerpunkt” mit dem Thema “Mut”
* Rainer Paris, geb. 1948, lehrte bis 2013 als Professor für Soziologie an der Hochschule Magdeburg-Stendal. Letzte Buchveröffentlichung: Ein Ball. Kleine Schriften zur Soziologie, Heidelberg 2016.