Karl Friedrich Schinkel: Blick auf den Mont Blanc (1813) © gemeinfrei
Von Christel Heybrock
Berge haben ja immer etwas Magisches. Ihre abweisende Größe weckt Ehrfurcht in uns, aber auch die Herausforderung, sie zu „bezwingen“ – das heißt, menschliche Grenzen zu durchbrechen und hinaufzuklettern. Als wären sie schon bezwungen, wenn man oben ist. Aber weil sie da sind, rufen sie dazu auf, es ist ähnlich wie mit dem Mars, der ja auch eines Tages „besiedelt“ werden wird – warum? „Weil er da ist“, so einst Raumfahrtingenieur Jesco von Puttkamer. Schließlich heißt es nicht umsonst, dass „der Berg ruft“ (der Mars eher nicht).
Wieso ruft er? Wie macht er das, Berge sind doch keine Lebewesen?! Doch. Irgendwie schon. Mein Vater war Bergsteiger, das ist jetzt rund ein Jahrhundert her. Die Ausrüstung war damals wirklich nicht professionell im heutigen Sinn, auf den Mount Everest hätte man es nicht geschafft, und aus Sicherheitsgründen war es ratsam, nicht allein eine Wand hochzukraxeln. Es schloss sich ihm ein mutiger Gesinnungsgenosse an – der ihn den letzten Nerv kostete. Der Mann war ehrgeizig, einer dieser „rufenden“ Berge sollte am selben Tag bestiegen und wieder verlassen werden, wie sonst als mit Rekordhetzerei war der Beweis möglich, dass man ein toller Kerl war? Mein Vater hat nie mehr jemanden mitgenommen, es ist am Berg lebensgefährlich, sich drängen zu lassen, und er suchte etwas anderes als den Beweis der täuschenden Ebenbürtigkeit von Mann und Gipfel. Abgesehen von Höhen-, Temperatur- und Windmessungen, von Flora, Fauna- und Gesteinserkundungen, die er in heute vergessenen Fachorganen publizierte, ging es ihm, da bin ich sicher, um etwas ganz anderes. Die Alpengipfel, der Mont Blanc, das Atlas-Gebirge in Marokko, der Damavand im Iran … ich glaube, der Hindukusch in Afghanistan war ein nie erreichtes Traumziel … was suchte er überall dort? Ich glaube, einen stummen Dialog, das Erkunden einer fremden Institution, eines unbekannten Organismus. Wahrscheinlich war es, als ließe er sich auf eine fremde Person ein, der man sich nähern konnte, die man lernen musste zu verstehen, deren Vertrauen man sich behutsam erarbeiten musste.
Es ist nicht nur jeder Stein anders als jeder andere, auch jeder Berg ist ein Individuum. Andere Zivilisationen hatten dieses Wissen in ihr natürliches Verhalten integriert. Sie wussten, dass man eine bestimmte Höhe nicht überschreiten durfte, wenn man gesund zurückkommen wollte, und dass man das Innere von Bergen auf völlig andere Weise erschließen musste als das Äußere – obwohl es auch im Innern nicht nur in die Tiefe geht. Die Inkas setzten ihre Kinderopfer, die sich heute mitunter als Mumien „bergen“ lassen, auf den höchsten Gipfeln aus. Dort waren die Opfer der Sonne am nächsten und der Todeskampf, an den die Eltern sicherlich dachten, dank der Kälte und der dünnen Luft am kürzesten. Der Maler Paul Cézanne, besessen vom Mont Sainte-Victoire, ohne den er die kristallinen Strukturen und das Beben des Lichts niemals auf die Leinwand gebracht hätte, widmete diesem einen Berg seine Lebensenergie. Der Berg war ein Gegenüber, dem er sich ständig neu gewachsen fühlen musste, dessen innere Energie sich nicht ausschöpfen ließ.
Berge sind, vergleichbar mit Vögeln, Verbindungen nach „oben“, in eine unbekannte, unbetretbare Sphäre, deren Bedeutung für das menschliche Bedürfnis nach Transzendenz auch im Zeitalter der Raumfahrt nicht nachgelassen hat. Egal, wo wir sind – auf dem Berg, in der Wand, in der Internationalen Raumstation oder, wie in absehbarer Zeit wohl wieder, auf dem Mond –, das bloße Vor-Ort-Sein bedeutet noch lange nicht, dass wir den Ort verstehen und ihn als Dialogpartner in unser psychisches Wissen aufnehmen können.
Der Kiowa-Schriftsteller N. Scott Momaday (1934-2024) nannte sich mit seinem indigenen Namen „Rock-Tree Boy“ – Tsoai-talee. Das war nicht irgendein Name wie Hans oder Helmut, sondern die mythische Bindung an einen Felsen, der als schwarzer vulkanischer Monolith aus einer Hochebene der Black Hills in Wyoming herausragt. Ein Naturwunder, dem sich viele indigene Völker zutiefst verbunden fühlen. Warum? Was fühlen sie da? Als Vertreter einer Zivilisation, die versessen ist auf Messungen, abstrahiertes Zahlenwissen und Rationalität (aber was, bitte, ist mit Schrödingers Katze?), werden wir es nie ganz verstehen. Es geht sicherlich um das Gebundensein in der Tiefenzeit, einen Begriff, den der amerikanische Geologe Stephen Jay Gould (1941-2002) prägte. Es ist eine Bindung an Dauer, an Zeitläufte, die menschliche Erfahrung überschreiten.
Was Berge durch ihre Höhe vermitteln, vermitteln sie auch durch den immateriellen Begriff der Zeitlosigkeit. Die indigenen Völker Nordamerikas, bewundernswert angesichts ihrer Resilienz, die sie 500 Jahre brutaler Kolonisierung überstehen ließ, wissen sich verankert in eben dieser Dauer, verwurzelt in der Tiefenzeit von Bergen und Felsen (die sie traditionell als Lebewesen wahrnehmen). Sie wissen immer noch, dass fünf Jahrhunderte nichts sind gegen die Dauer von Jahrtausenden. Und ihre Bindung, ebenso wie unsere Bewunderung von Bergen, hat sicherlich auch mit Energie zu tun – welche ungeheuren Energien der Erde lassen Berge wachsen? Welche Energien haben den von Weißen als „Devilʼs Tower“ bezeichneten Felsen in den Black Hills hervorgebracht? Man kann nur versuchen, es sich vorzustellen, so wie wir uns die Orbitalenergie von Planeten vorstellen können. Messen nützt da gar nichts.
Aber so, wie die technische Zivilisation zielstrebig an der Zerstörung des Lebensraums Erde arbeitet, so hat sie inzwischen auch die Dimensionen von Höhe und Zeittiefe der Berge verändert, und damit ist nicht nur die Ausbeutung von Boden‚schätzen‘ gemeint, die ganze Landschaftsformen für immer zerstört hat. Berge sind heute nicht mehr dauerhaft, schmelzende Gletscher, rutschende, einst durch Eis gebundene Geröllmassen haben sie in Bewegung gebracht, da ist ein Ende nicht abzusehen, wohl aber ein Ende von Wasserversorgung und Bewohnbarkeit.
Trösten wir uns mit einer sehr traditionellen, mit einer der schönsten Filmszenen am Ende der TV-Serie „Die Cree“. Gordon Tootoosis als Häuptling Big Bear hat seinen zerfallenden Stamm allein nach Süden ziehen lassen, seine Frau hat ihm einen letzten, schmerzerfüllten Blick zugeworfen. Er ist erschöpft und sinkt am Ufer eines Gewässers nieder. Da liegt er, ein großer müder Bär, die Kamera fährt ein wenig zurück, das Bild verschwimmt etwas … aus Big Bears Silhouette wird ein Felsstück, ein unverrückbarer großer Stein. Indigene Spiritualität kennt Weisheit und lebendiges Wirken von Steinen: Big Bear wird niemals sterben, er ist im Fels, in unzerstörbarer Erinnerung.
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