
Werbefoto zum Radio © Südwestrundfunk
von Thomas Bimesdörfer
Ein Rückblick auf das Jahr 1979. Die damalige Medienwelt war nach heutigen Maßstäben beschaulich und überschaubar. Die Tageszeitung verdiente gutes Geld als Hauptlieferant von Neuigkeiten aus der großen Welt der Politik, des Sports, der Skandale und vor allem auch der Nahwelt, der Stadt, dem Dorf, dem jeweiligen Lebensumfeld. Das Fernsehen zeigte bewegte Bilder, Filme, Kammerspiele aus dem Studio, am Abend auch so etwas wie eine tägliche Wochenschau, also eine Tagesschau und später am Abend dann das legendäre weiße Rauschen. Es war, wie es der deutsche Name dieses Mediums ja ohne Umschweife und mit großer Ausschließlichkeit sagt, über gewisse Strecken des Tages etwas zum Sehen. Im Radio lief Musik, nicht nur, aber der Hörfunk war für das flüchtige gesprochene Wort und die akustischen Reize zuständig, also, auch hier ist unsere Sprache sehr unmissverständlich, etwas zum Hören. Nicht immer störungsfrei im Empfang, dafür aber schon damals rund um die Uhr.
Doch ganz allmählich waren erste tektonische Beben zu verspüren, Vorboten eines ziemlichen Erdrutsches in dieser Landschaft, die noch felsenfest in der Hand von Print, Radio und TV lag. Poplegendär wurde „Video killed the radio star“, ein Lied, eigentlich der einzige bekannte Song des One-Hit- Wonders „The Buggles“. War es ein prophetischer Abgesang? Geschrieben hatte es immerhin kein geringerer als Trevor Horn, der englische Musiker und Produzent, der, wie man in seiner Heimat sagt, die achtziger Jahre erfand: „the man who invented the eighties”.
Wir sind immer noch im Jahr 1979. Das Farbfernsehen in der Bundesrepublik gab es seit nunmehr 12 Jahren und das war bis dahin die letzte große technische Neuerung in der Unterhaltungselektronik. Wirklich? Nicht ganz. Die Buggles melden in ihrem Welthit nicht nur einen Mord, sie nennen im Refrain auch mehrmals den Täter und seine Waffe: „blame it all on VCR“. Ihre Prognose war also, die aufkommende Technologie der Videoaufzeichnung auf handliche und erschwingliche Speichermedien (VCR ist die englische Abkürzung für genau das: Video – Kassetten – Aufzeichnung durch einen entsprechenden Rekorder) würde nach und nach dem Musikradio zu schaffen machen. In Westdeutschland waren diese Geräte in halbwegs alltagstauglichen Größen und zu erschwinglichen Preisen erst seit 1978 auf dem Markt und noch lange nicht in jeden Haushalt eingezogen. Bei uns erklang mit „Video killed the radio star“ im Erscheinungsjahr also auf jeden Fall noch Zukunftsmusik.
2 Jahre später, 1981, wurde der Hit Programm. „Video killed the radio star“ war sicher nicht zufällig das Lied, das der damals auf die USA begrenzte erste Musikvideosender der Welt, MTV, zum Sendestart am 1. August ausstrahlte. Nach Deutschland kam MTV erst knapp 16 Jahre später. Bei uns gingen die Funkuhren also anders.
Ab 1984 kamen nämlich zuerst einmal mehr und mehr „radiostars“ auf die akustische Showbühne. Der so genannte duale Urknall in der Bonner Medienpolitik sorgte für die Zulassung des privaten Rundfunks und damit für eine substanzielle Vermehrung von Radiosendern. Zum Jahresbeginn ‘84 gab es in der Bundesrepublik genau 31 Hörfunkprogramme. Aktuell sind es gesamtdeutsch sogar mehr als 460.
Damit ist das 1979 totgesagte Radio also auch 44 Jahre später noch quicklebendig. Und nicht nur die Zahl der Angebote ist beeindruckend. Auch die Akzeptanz kann sich sehen lassen. Im vergangenen Jahr lag die durchschnittliche tägliche Hördauer von Radioprogrammen in Deutschland pro Kopf der Bevölkerung bei 175 Minuten. Ein Wert, von dem andere Medien nur träumen können. Sogar das Fernsehen. Hier verzeichnet die Statistik für das vergangene Jahr zwar eine durchschnittliche Nutzungsdauer von 195 Minuten täglich, aber die Zahlen haben eine alarmierende Tendenz. Bei älteren Menschen erfreut sich das Heimkino durchaus noch immer einer ungebrochenen Beliebtheit, die sich in bis zu 213 Minuten durchschnittlicher durchschnittlicher Sehdauer am Tag niederschlägt, aber je jünger die untersuchten Bevölkerungsgruppen sind, desto weniger Interesse am TV-Programm haben sie. Wenn es sich Herr und Frau Mustermann am Abend auf den Wohnzimmersesseln vor dem Fernsehschirm bequem machen und in ihren Programmzeitschriften nach dem Abendvergnügen suchen, sind sie, empirisch betrachtet, kurz vor dem Rentenalter. Was wir hier also in Echtzeit beobachten können, ist ein so genannter Generationenabriss in der Fernsehnutzung. Je jünger die Rezipientenschar, desto größer ist der Wunsch nach zeitautonomer Nutzung bewegter Bilder, also nach Angeboten in den Mediatheken, bei den Streamingdiensten oder, nicht zu unterschätzen, auf YouTube. Demnach müssten die Buggles ihren Songtext heute umschreiben. Es sieht ganz so aus, als gingen Netflix und Co. dem Fernsehstar an den Kragen.
Das Radio kennt diese Tendenzen auch, ist aber lange nicht so dramatisch davon betroffen. Denn es hat eine erstaunliche Fähigkeit, mit der Zeit und mit Nutzungsgewohnheiten zu gehen. Den Siegeszug des Fernsehens ab den späten fünfziger Jahren und die Inbetriebnahme der „20 Uhr Guillotine“ (ab dieser Uhrzeit gibt es durch den dann verstärkten TV-Konsum praktisch keine quantitativ relevante Radionutzung mehr) hat es überlebt und sich erfolgreich neu erfunden. Zum Beispiel als Serviceangebot im Autoverkehr, als Musiklieferant für junge Leute,als Wecker am Morgen. Den Wandel des Fernsehens vom Abendmedium zum Rund-um-die-Uhr-Angebot hat der Hörfunk ebenfalls verkraftet und ab den 90er Jahren den gewachsenen Erwartungen der jungen Generation entsprechende Inhalte geboten (die sogenannten „Jugendwellen“, im Saarland z. B. „Unser Ding“ vom Saarländischen Rundfunk mit einem Vollprogramm bis hin zum so genannten Visual Radio, also dem direkten optischen Draht ins Studio).
Generell gab es plötzlich beim Radio auch etwas zu sehen. Moderne DAB-Geräte haben ganz selbstverständlich einen Bildschirm für Kurznachrichten, Wetterberichte oder optische Informationen wie Senderlogo, Plattencover oder Musikangaben. Und nicht vergessen werden darf, dass es für Radioempfang inzwischen keine klassischen Rundfunkempfänger mehr braucht. Jedes moderne Mobiltelefon „kann Radio“. Hörfunkprogramme besitzen längst als wichtigen Ausspielweg eigene Apps, die auf allen Rechnern funktionieren. Positiv kann man sagen, Radio ist inzwischen fast überall dabei, pessimistisch oder nostalgisch gesehen hat der Hörfunk sein ureigenes Zuhause verloren, den Rundfunkempfänger. Aber für diese technischen Dinosaurier gibt es inzwischen schöne
Ausstellungen und sogar Museen.
Das Radio hat sich auch thematisch und programmlich weiterentwickelt. Dem für manche überraschenden Comeback der Podcasts hat alleine der öffentlich-rechtliche Rundfunk in Deutschland mit einer Vielzahl von qualifizierten Angeboten Rechnung getragen und gleichzeitig einer Hörfunkgattung Leben eingehaucht, die eher in Frankreich und in den angelsächsischen Ländern zu Hause ist, dem so genannten „talk radio“, also Radio fast ohne Musik und redaktionell gestaltete Beiträge mit Originaltönen, sondern mit Gesprächen (manche sagen mit einem Augenzwinkern auch „Laberei“ dazu). Denn was sind die meisten Podcasts anderes als zeitunabhängig abrufbare Talks? Nun, sie sind natürlich auch noch sehr erfolgreich. Und ein Ende dieses Booms ist nicht in Sicht. „Reden ist Gold“ hat daher der Deutschlandfunk schon im vergangenen Jahr erkannt. Die ARD-Audiothek bietet einen guten Einblick in diese schöne neue Medienwelt des Radios. Und mit der Abkürzung RadioGPT wagt das Radio (in diesem Falle nicht unumstritten) auch noch einen nächsten eventuell großen Schritt in die Zukunft. Hinter der Abkürzung verbirgt sich die technische Möglichkeit, Radiomoderationen ohne Menschen, aber täuschend echt zu produzieren. Kombiniert mit Werkzeugen der künstlichen Intelligenz kann ein solches Programm sogar komplette Sendungen „gestalten“. Eine private Radiostation mit Sitz in Mannheim will mit dieser cloudbasierten KI-Lösung demnächst auf Sendung gehen. Ob es den Hörerinnen und Hörern gefällt, steht allerdings noch dahin.
100 Jahre Radio sind also ein Meilenstein, ein Datum für die Erinnerung und Selbstvergewisserung des Mediums, aber auf gar keinen Fall ein Grund für eine Absage zum Programmschluss.The beat goes on.
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