Prof. Dr. Julian Nida-Rümelin © Diane von Schoen
In unserer heutigen Welt ist es schier erschreckend, wie sehr die Freiheit mannigfaltigen Gefährdungen, Anfechtungen, Beeinträchtigungen bis hin zu ihrer totalen Unterdrückung ausgesetzt ist. Das gilt für den weltweit wütenden Terrorismus, der zermalmend wirkt und der Freiheit keinerlei Raum lässt, aber auch für die vielfältigen kriegerischen Konflikte, bei denen die Freiheits- und Menschenrechte unter die Räder geraten und völlig auf der Strecke bleiben. Zudem sind in den letzten fünf Jahren vor allem auf dem afrikanischen Kontinent eine ganze Reihe von demokratisch verfassten Staaten durch Militärputsche überwältigt und in Diktaturen gestürzt worden: So in Burkina Faso, Gabun, Guinea, Mali, Niger, Sierra Leone, Simbabwe und Sudan. Das gilt auch für die autoritären Regime in Ägypten, Myanmar, Thailand und Tunesien. Und die Aufzählung ist keineswegs vollständig. Die auf diesem Weg an die Macht gelangten Potentaten regieren häufig willkürlich, fühlen sich an Grund- und Menschenrechte nicht mehr gebunden und auch nicht mehr an Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung. Der Unabhängigkeit der Justiz fühlen sie sich nicht mehr verpflichtet. Sie verfolgen ihre Gegner mit willfähriger Justiz bis hin zur Tötung. Opposition wird höchst selten toleriert.
Innerhalb der Europäischen Union mussten wir erleben, dass dank populärer Politik große Mehrheiten errungen wurden, die zu Verfassungsänderungen reichten, wodurch die Freiheitsrechte eingeschränkt und die (obersten) Gerichte mit willfährigen Gefolgsleuten besetzt wurden. So wurden freiheitliche Rechtsstaaten in autoritäre Regime verwandelt, wie bis vor kurzem in Polen und vor allem unter Regierungschef Orbàn in Ungarn. Deswegen ist vor allem in der EU Wachsamkeit geboten, um Angriffen und Eingriffen in den freiheitlichen Rechtsstaat vorzubeugen und gegebenenfalls mit Sanktionen deren Rücknahme durchzusetzen. Welch schlimme Ausmaße das annehmen kann, konnten wir in den vergangenen Jahren in der Türkei beobachten, wo aus dem liberalen Bürgermeister von Istanbul, Recep Erdoğan, ein Autokrat wurde, der auf nichts und niemanden mehr Rücksicht nahm und nimmt.
Freiheit und Rechtsstaatlichkeit gehören zum Kernbestand unserer Zivilisation, worauf im nachfolgenden Interview mit Julian Nida-Rümelin, einem ausgewiesenen Experten, eigegangen wird.
OPUS: Welche Bedeutung hat die Freiheit für den Rechtsstaat?
Nida-Rümelin: Der Rechtsstaat schützt individuelle Rechte, die Rechte, die menschliche Personen und speziell die Bürgerinnen und Bürger haben. Das Grundgesetz beginnt mit 19 Artikeln, die allesamt individuelle Rechte festlegen, auch Artikel 1 der in Absatz 1 postuliert „die Würde des Menschen ist unantastbar“. Übersetzt: Jede menschliche Person hat das Recht, in seiner Selbstachtung nicht existentiell beschädigt zu werden, wie es der israelische Philosoph Avishai Margalit in Buchlänge ausgeführt hat („A descent society“). Die Unabhängigkeit der Justiz ist dabei unverzichtbar, um sicherzustellen, dass nicht politische Opportunität und Mehrheitsmeinungen die Garantie individueller Rechte einschränken.
Wie sehen Sie den Bezug von Demokratie zur Freiheit?
Die Demokratie ist diejenige Staatsform, die unter Freien und Gleichen sowie hinreichend Vernunftfähigen allgemein zustimmungsfähig ist. Wir können aber vernünftigerweise einer Staatsordnung nur zustimmen, wenn in dieser das individuelle Recht auf körperliche Unversehrtheit, auf Gleichberechtigung von Mann und Frau, auf freie Meinungsäußerung usw. garantiert ist. Die individuellen Rechte und Freiheiten stehen nicht in Konkurrenz zum Demokratieprinzip, sondern sind ein essenzielles Element der Demokratie. Die Demokratie erschöpft sich nicht in Mehrheitsentscheidungen.
Was halten Sie von wirtschaftlicher Freiheit mit Blick auf soziale Sicherung?
Man sollte wirtschaftliche Freiheit nicht gegen soziale Sicherheit ausspielen. Die Ordnung eines ökonomischen Marktes mit konkurrierenden Anbietern ist für eine vitale ökonomische Entwicklung unverzichtbar. Die Restriktionen wirtschaftlicher Freiheit sind meist mit ökonomischen Effizienzverlusten verbunden, allerdings sollte der Staat als neutrale Instanz die Regeln ökonomischer Praxis so festlegen, dass die Früchte ökonomischer Leistung allen zugutekommen, wie es das Differenzprinzip von John Rawls („Eine Theorie der Gerechtigkeit“) fordert. Der Sozialstaat stellt sicher, dass der ökonomische Markt nicht zu entwürdigenden Lebensbedingungen der weniger leistungsfähigen, derjenigen, deren Qualifikationen weniger gefragt sind, der Jüngeren, der Älteren, derjenigen, die sich um Angehörige kümmern, der Kranken oder Pflegebedürftigen führt und er dämpft die für Marktwirtschaften charakteristische Ungleichheit.
Welche Wirkungen kann die Freiheit in den internationalen Beziehungen entfalten?
Wir müssen aufpassen, dass die Welt nicht erneut in Blöcke zerfällt und der Westen einen immer weiter sinkenden Anteil der globalen Bevölkerung und der globalen Wirtschaftskraft aufweist. Zudem besteht aktuell die Gefahr der Eskalation internationaler Konflikte. Daher sollte das Prinzip der Nichteinmischung in innere Angelegenheiten wieder ernster genommen werden als dies seit den 1990er Jahren getan wird. Ein Feldzug für die Freiheit mit militärischen Mitteln ist schon in den 1990er Jahren und auch in den Jahren danach auf ganzer Linie gescheitert. Der Einsatz für Freiheit im Sinne der Achtung der Menschenrechte ist ein Gebot, an das sich alle Staaten halten sollten, aber der Einsatz kriegerischer Mittel und wirtschaftlicher Sanktionen, um dies zu erreichen, ist der falsche Weg. Er führt zur Destabilisierung und eines Tages möglicherweise zum Nuklearkrieg und er schafft falsche Allianzen derjenigen, die sich bevormundet fühlen und derjenigen, die diktatorische Regime etabliert haben.
Welche Gefahren drohen der Freiheit durch die Zunahme autoritärer Regime?
Die weltweite Krise der Demokratie findet ihren Ausdruck in der Zunahme autokratischer, diktatorischer und autoritärer Regime. Umso wichtiger ist es, die Demokratie vital zu halten, ihre zivilkulturellen Grundlagen zu stärken und einen öffentlichen Vernunftgebrauch auch in Zeiten von Social Media und Künstlicher Intelligenz zu praktizieren. Die Verengung von Meinungskorridoren wie auch immer motiviert und aus welchen politischen Ecken auch immer praktiziert, auch die Einschränkung der Kunstfreiheit in Gestalt politischer Gesinnungsprüfungen ist der falsche Weg. Dies habe ich in meinem letzten Buch „Cancel Culture: Ende der Aufklärung?“ (Piper 2024) näher erläutert.
Das Interview mit Julian Nida-Rümelin* führte Kurt Bohr
*Julian Nida-Rümelin ist emeritierter Lehrstuhlinhaber für Philosophie und politische Theorie an der LMU München. Er ist Direktor am bayerischen Forschungsinstitut für digitale Transformation und Rektor der Humanistischen Hochschule Berlin. Er war Kulturstaatsminister im ersten Kabinett Schröder sowie Präsident der Deutschen Gesellschaft für Philosophie.