
Lebhafter Applaus © Caiaimag, Foto Martin Barraud
von Eva-Maria Reuther
„Vergessen Sie nicht zu applaudieren“. Ein kleines Schild mit zwei Händen am Eingang der Lotte Concert Hall in Seoul erinnert das Publikum daran, am Ende den Künstlerinnen und Künstlern den gebührenden Applaus zu spenden. Dank und Anerkennung gehören nun mal zu jedem gelungenen Live-Konzert und jeder Theateraufführung. Wie wesentlich der Beifall für ein Theater ist, das sich als Gemeinschaftserlebnis von Publikum und Bühnenakteuren versteht, als Dialog zwischen Saal und Bühne, war in trübseligen Corona-Zeiten zu erleben, als vor leeren Reihen quasi für Zuschauer im Off gespielt wurde. Soll heißen für ein imaginiertes Publikum, das streamend den Theatersaal ins Wohnzimmer verlegt hatte. Pfiffige Veranstalter halfen sich, indem sie den Beifall am Ende einfach aus der Konserve einspielten. Theater ist – wie gesagt – auf Dialog mit den Zuschauern ausgerichtet. Nur wo der Funke von der Bühne aufs Publikum überspringt, die imaginäre vierte Wand fällt, kann es mit Resonanz aus dem Saal rechnen, akklamierend oder kritisierend, lachend oder ‚buhrufend‘. So richtig mit spielt das Publikum beim Schlussapplaus. Denn die Inszenierung ist noch längst nicht zu Ende, wenn der Vorhang fällt und wir – frei nach Bert Brecht – betroffen dastehen. Im Schlussapplaus findet die Illusion des hauptsächlichen Spiels, soll heißen der Aufführung, ihr Nachspiel mit Publikumsbeteiligung. Theateraufführungen sind komplexe Inszenierungen, bei denen möglichst nichts dem Zufall überlassen bleibt. Auch nicht der finale Beifall. Er ist eine eigene sorgfältig durchdachte szenische Setzung. Als Applausordnung wird sein Ablauf ausgehängt. Für ihre reibungslose Durchführung ist der Spielleiter zuständig. Wer wann beim Schlussapplaus auf die Bühne kommt, wer von wo auf- und abgeht, in welchen Formationen und Gruppierungen sich die Spieler vor dem Publikum verbeugen und wie sie auftreten, wird in der Applausordnung geregelt. Die Balletttänzer drehen noch eine letzte Pirouette, Marquis Posa verbeugt sich nach Art spanischer Granden mit ausladender Geste, und Offenbachs Herzogin von Gerolstein gibt noch immer die Mondäne. Die Darsteller der Nebenrollen huschen vorbei, während sich die Hauptdarsteller als Letzte den gespannt wartenden Zuschauern präsentieren. Mancher Bühnenstar gleicht, sich seiner Prominenz bewusst, beim Schlussapplaus einem Potentaten, der gnädig die Huldigungen der Masse entgegennimmt. Und natürlich hält man sich an den Händen. Das hat Power und suggeriert Geschlossenheit. Sich wirkungsvoll in Szene zu setzen und immer dann den Vorhang zu senken, wenn das Publikum gerade in bester Beifallslaune nach mehr verlangt, gehört zu den Basics einer gekonnten Schlussapplaus-Inszenierung, ebenso wie die angemessene Verbeugung. Denn auch das Publikum hat Dank verdient, manchmal allein wegen seiner Geduld. Fünf Vorhänge hat es sich erklatscht. Denkt es. Dabei standen die bereits vorher in der Applausordnung. Dass der Beifall in Gang kommt, dafür sorgen die hauseigenen Claqueure im Saal. Wenn trotz allem der Applaus spärlich bleibt, helfen bewährte Taktiken. „Alle nochmal nach vorn“, ist als Schlachtruf von Claus Peymann überliefert, wenn der erhoffte Beifall zu früh abebbte. Ein absoluter Applauskiller ist das Einschalten der Saalbeleuchtung. Wie in ihrer Regiesprache unterscheiden sich Regisseure auch im Stil ihrer Applausinszenierung. So pflegt der ausgewiesene Komödienregisseur Herbert Fritsch aus dem Schlussapplaus gern ein eigenes Lustspiel zu machen.
Dass das Publikum in seinem Applausverhalten regional – man möchte fast sagen landsmannschaftlich – reagiert, ist bekannt. In Hamburg wird wohl weniger schnell gejubelt als in München oder Frankfurt. Und Wien ist auch applausmäßig nicht Berlin. Verändert hat sich in den letzten Jahren das Applausverhalten des Publikums. So waren Standing Ovations früher die höchste und erhabenste Form des Beifalls, die allein genialen und außergewöhnlichen Inszenierungen sowie theatralen Olympiern vorbehalten waren. Inzwischen darf man sie für inflationär halten. Kaum eine Vorstellung vergeht, bei der nicht irgendjemand aufspringt und mancherorts regelmäßig der ganze Saal. Von Klatschsucht sprach vor Jahren eine Kritikerin in Bezug auf ein Schweizer Stadttheater. In manchen Theatern herrscht heute Standing Ovations Sucht. Umgehend werden solche Massenbekundungen an Jubel dann auf den Facebook- und Instagram-Seiten der Theater begeistert gepostet. Dabei gleicht der eine oder andere Theatermacher den PR-Leuten, die an ihre eigenen Werbesprüche glauben. Keine Frage: Am liebsten gehe auch ich ins Theater, um am Ende zu jubeln. Die Frage sei allerdings erlaubt: Wie schafft das Theater echten Jubel, der sich allein aus der Aufführung ergibt, ohne dass es zum platten Entertainer oder theatralen Discounter degeneriert? Der größte Teil der Menschen geht ins Theater, um sich einen unterhaltsamen Abend zu machen, legte unlängst das Ergebnis einer wissenschaftlichen Studie nahe. Das ist nicht neu. Ebenso wenig wie die Tatsache, dass Unterhaltung und Tiefsinn keine Gegensätze sind. Selbst Schillers Theater als „moralischer Anstalt“ setzte auf Unterhaltungswert, um seine Botschaft an den Mann oder die Frau zu bringen. Er müsse sich noch eine schöne Liebesgeschichte ausdenken, schrieb der Klassiker sinngemäß bei der Arbeit an seinem „Don Carlos“, weil das den Leuten gefiele. Auch Shakespeare wusste, dass er weder das Globe Theatre füllen noch irgendwelche Einsichten erzeugen konnte, wenn er sein Publikum langweilte oder als zeitgeistiger Oberlehrer agierte. Wie kaum ein anderer verstand der begnadete Unterhaltungskünstler Molière seine beißende Gesellschaftskritik so zu präsentieren, dass er verstanden wurde und doch die Lacher auf seiner Seite hatte. Mit Qualität unterhalten werden wollen auch wir, um jubelnd zu applaudieren, ganz unabhängig von irgendeiner Applausordnung. Es muss noch nicht mal etwas zu lachen geben. Denn relevanter Jubel im Theater gilt immer der inhaltlichen Substanz und der künstlerischen Leistung, ob nun Tragödie oder Komödie.